Quelle: Pressemitteilung des Gerichtshofs der Europäischen Union Nr. 221/21 vom 14.12.2021 – Urteil vom 14.12.2021 – C-490/20
Minderjähriges Kind, das Unionsbürger ist und dessen vom Aufnahmemitgliedstaat ausgestellte Geburtsurkunde zwei Personen gleichen Geschlechts als seine Eltern bezeichnet: Der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit das Kind besitzt, ist verpflichtet, ihm einen Personalausweis oder Reisepass auszustellen, ohne die vorherige Ausstellung einer Geburtsurkunde durch seine nationalen Behörden zu verlangen.
Er ist auch verpflichtet, das aus dem Aufnahmemitgliedstaat stammende Dokument anzuerkennen, das es dem Kind ermöglicht, mit jeder dieser beiden Personen sein Recht auszuüben, sich im Gebiet der Union frei zu bewegen und aufzuhalten V.M.A., eine bulgarische Staatsangehörige, und K.D.K. wohnen seit 2015 in Spanien und haben 2018 die Ehe miteinander geschlossen. Ihr Kind, S.D.K.A., wurde 2019 in Spanien geboren. In der von den spanischen Behörden ausgestellten Geburtsurkunde dieses Kindes werden die beiden Mütter als dessen Elternteile angegeben.
Da für den Erhalt eines bulgarischen Identitätsdokuments eine von den bulgarischen Behörden ausgestellte Geburtsurkunde erforderlich ist, beantragte V.M.A. bei der Gemeinde Sofia (Bulgarien)1 die Ausstellung einer solchen Urkunde für S.D.K.A. Zur Stützung ihres Antrags legte V.M.А. eine amtlich beglaubigte bulgarische Übersetzung des die Geburtsurkunde von S.D.K.A. betreffenden Auszugs aus dem spanischen Personenstandsregister vor.
Die Gemeinde Sofia gab V.M.A. auf, Nachweise für die Abstammung von S.D.K.A. in Bezug auf ihre leibliche Mutter vorzulegen. Das in Bulgarien geltende Muster einer Geburtsurkunde sehe nämlich nur ein Feld für die „Mutter“2 und ein weiteres Feld für den „Vater“ vor, wobei in jedem dieser Felder nur ein einziger Name aufgeführt werden könne.
Nachdem V.M.A. der Auffassung war, dass sie nicht verpflichtet sei, die geforderte Information zu erteilen, verweigerte die Gemeinde Sofia die Ausstellung der beantragten Geburtsurkunde, da Informationen über die Identität der leiblichen Mutter des Kindes fehlten und die Angabe zweier Elternteile weiblichen Geschlechts in einer Geburtsurkunde der öffentlichen Ordnung in Bulgarien zuwiderlaufe, nach der die Ehe zwischen zwei Personen gleichen Geschlechts nicht zulässig sei.
Gegen diese ablehnende Entscheidung erhob V.M.A. Klage beim Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia), dem vorlegenden Gericht.
Das vorlegende Gericht stellt sich die Frage, ob die Weigerung der bulgarischen Behörden, die Geburt eines bulgarischen Staatsangehörigen3 in ein Register inzutragen, die in einem anderen Mitgliedstaat stattgefunden habe und mit einer in diesem Mitgliedstaat ausgestellten www.curia.europa.eu Geburtsurkunde, in der zwei Mütter angegeben seien, bescheinigt worden sei, die diesem Staatsangehörigen in den Art. 20 und 21 AEUV sowie den Art. 7, 24 und 45 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union4 verliehenen Rechte beeinträchtige. Diese Weigerung könne nämlich die Ausstellung eines bulgarischen Identitätsdokuments schwieriger machen und damit dem Kind die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit und mithin die volle Inanspruchnahme seiner Rechte als Unionsbürger erschweren.
Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht beschlossen, sich mit Fragen nach der Auslegung von Art. 4 Abs. 2 EUV5, der Art. 20 und 21 AEUV sowie der Art. 7, 25 und 45 der Charta an den Gerichtshof zu wenden. Es möchte wissen, ob ein Mitgliedstaat nach diesen Bestimmungen verpflichtet ist, im Hinblick auf die Erlangung eines Identitätsdokuments eine Geburtsurkunde für ein Kind auszustellen, das staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und dessen Geburt in einem anderen Mitgliedstaat durch eine von den Behörden dieses anderen Mitgliedstaats nach dessen nationalem Recht ausgestellte Geburtsurkunde bescheinigt wird, in der eine Staatsangehörige des erstgenannten Mitgliedstaats und ihre Ehefrau als Mütter dieses Kindes bezeichnet werden, ohne die konkrete Angabe, welche der beiden Frauen das Kind geboren hat.
In seinem Urteil legt der Gerichtshof (Große Kammer) die vorgenannten Bestimmungen dahin aus, dass im Fall eines minderjährigen Kindes, das Unionsbürger ist und dessen von den zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats ausgestellte Geburtsurkunde zwei Personen gleichen Geschlechts als seine Eltern bezeichnet, der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger dieses Kind ist, zum einen verpflichtet ist, ihm einen Personalausweis oder Reisepass auszustellen, ohne die vorherige Ausstellung einer Geburtsurkunde durch seine nationalen Behörden zu verlangen, sowie zum anderen ebenso wie jeder andere Mitgliedstaat das aus dem Aufnahmemitgliedstaat stammende Dokument anzuerkennen hat, das es diesem Kind ermöglicht, mit jeder dieser beiden Personen sein Recht auszuüben, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.
Würdigung durch den Gerichtshof
Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass, um den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten die Ausübung des jedem Unionsbürger durch Art. 21 Abs. 1 AEUV zuerkannten Rechts zu ermöglichen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten6, die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie 2004/387 verpflichtet sind, ihren Staatsangehörigen gemäß ihren Rechtsvorschriften einen Personalausweis oder einen Reisepass auszustellen, der ihre Staatsangehörigkeit angibt.
Da S.D.K.A. die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzt, sind die bulgarischen Behörden mithin verpflichtet, ihr unabhängig von der Erstellung einer neuen Geburtsurkunde einen bulgarischen Personalausweis oder Reisepass auszustellen, der ihren Nachnamen angibt, wie er sich aus der von den spanischen Behörden ausgestellten Geburtsurkunde ergibt.
Ein solches Dokument – für sich allein oder in Verbindung mit einem vom Aufnahmemitgliedstaat ausgestellten Dokument – muss es einem Kind wie S.D.K.A. ermöglichen, sein Recht auf Freizügigkeit mit jeder seiner beiden Mütter auszuüben, deren Status als Elternteile dieses Kindes während eines Aufenthalts im Einklang mit der Richtlinie 2004/38 durch den Aufnahmemitgliedstaat festgestellt wurde.
Zu den Rechten, die den Staatsangehörigen von Mitgliedstaaten in Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährleistet werden, gehört nämlich ihr Recht, sowohl im Aufnahmemitgliedstaat als auch, wennsie dorthin zurückkehren, in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, ein normales Familienleben zu führen, indem sie dort mit ihren Familienangehörigen zusammenleben. Da die spanischen Behörden ein biologisches oder rechtliches Abstammungsverhältnis zwischen S.D.K.A. und ihren beiden Elternteilen rechtmäßig festgestellt haben, das in der für das Kind ausgestellten Geburtsurkunde bescheinigt wurde, muss V.M.A. und K.D.K. daher in Anwendung von Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38 als Eltern eines minderjährigen Unionsbürgers, für den sie tatsächlich sorgen, von allen Mitgliedstaaten das Recht zuerkannt werden, sich bei diesem aufzuhalten, wenn er seine Rechte ausübt.
Hieraus ergibt sich zum einen, dass die Mitgliedstaaten dieses Abstammungsverhältnis
anerkennen müssen, um es S.D.K.A. zu ermöglichen, ihr Recht auf Freizügigkeit mit jedem ihrer Elternteile auszuüben. Zum anderen müssen die beiden Elternteile über ein Dokument verfügen, das sie zur Reise mit diesem Kind berechtigt. Die Behörden des Aufnahmemitgliedstaats sind am besten in der Lage, ein solches Dokument auszustellen, das aus der Geburtsurkunde bestehen kann; die übrigen Mitgliedstaaten sind zur Anerkennung dieses Dokuments verpflichtet.
Zwar fällt das Personenstandsrecht in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, denen es freisteht, in ihrem nationalen Recht für Personen gleichen Geschlechts die Ehe oder die Elternschaft vorzusehen oder nicht vorzusehen. Bei der Ausübung dieser Zuständigkeit müssen die Mitgliedstaaten jedoch das Unionsrecht, insbesondere die Bestimmungen des Vertrags über die Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit der Unionsbürger, beachten und hierzu den in einem anderen Mitgliedstaat nach dessen Recht festgestellten Personenstand anerkennen.
Im vorliegenden Fall widerspricht die Pflicht eines Mitgliedstaats, einem Kind mit der
Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats, das in einem anderen Mitgliedstaat geboren wurde, in dem die Geburtsurkunde ausgestellt wurde, die zwei Personen desselben Geschlechts als seine Eltern ausweist, ein Identitätsdokument auszustellen und das Abstammungsverhältnis zwischen diesem Kind und jeder dieser beiden Personen im Rahmen der Ausübung seiner Rechte aus Art. 21 AEUV und den damit zusammenhängenden Sekundärrechtsakten anzuerkennen, weder der nationalen Identität noch der öffentlichen Ordnung dieses Mitgliedstaats. Diese Pflicht bedeutet nämlich nicht, dass der betreffende Mitgliedstaat in seinem nationalen Recht die Elternschaft von Personen gleichen Geschlechts vorsehen müsste oder das Abstammungsverhältnis zwischen dem Kind und den Personen, die in der von den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats ausgestellten Geburtsurkunde als seine Eltern genannt sind, zu anderen Zwecken als der Ausübung der diesem Kind aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte anerkennen müsste.
Schließlich kann eine nationale Maßnahme, die geeignet ist, die Ausübung der
Personenfreizügigkeit zu beschränken, nur dann gerechtfertigt sein, wenn sie mit den durch die Charta verbürgten Grundrechten8 vereinbar ist. Es verstößt jedoch gegen die durch die Art. 7 und 24 der Charta gewährleisteten Rechte, dem Kind die Beziehung zu einem seiner Elternteile bei der Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit vorzuenthalten oder die Ausübung dieses Rechts unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren, weil seine Eltern gleichen Geschlechts sind.
HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
1 Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“ (Gemeinde Sofia, Stadtbezirk Pancharevo, Bulgarien) (im Folgenden: Gemeinde Sofia).
2 Nach dem Semeen kodeks (bulgarisches Familiengesetzbuch) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung wird die Abstammung im Verhältnis zur Mutter durch die Geburt bestimmt, wobei die Mutter des Kindes definiert wird als die Frau, die es geboren hat, einschließlich des Falles der künstlichen Fortpflanzung.
3 Nach Angaben des vorlegenden Gerichts steht fest, dass das Kind u. a. nach Art. 25 Abs. 1 der bulgarischen Verfassung die bulgarische Staatsangehörigkeit hat, auch wenn von den bulgarischen Behörden keine Geburtsurkunde
ausgestellt worden ist.
4 Im Folgenden: Charta.
5 Nach diesem Artikel achtet die Union u. a. die jeweilige nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten, die in ihren
grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommt.
6 Im Folgenden: Recht auf Freizügigkeit.
7 Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, Berichtigung ABl. 2004, L 229, S. 35)
8 In der Situation, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, sind das durch Art. 7 der Charta gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie die durch Art. 24 der Charta gewährleisteten Rechte des Kindes
einschlägig, insbesondere das Recht auf Berücksichtigung des Wohls des Kindes und der Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen.